Wichtige Jubiläen gibt es in diesem Jahr – und damit diese auch gewürdigt werden, hatte Monika Griefahn ihren Bundestagskollegen Wolfgang Thierse nach Seevetal eingeladen. Thierse, als ehemaliger Bundestagspräsident und jetziger Stellvertreter einer der wichtigsten Menschen in der deutschen Politik, diskutierte mit Schülerinnen und Schülern der Gymnasien Meckelfeld und Hittfeld zu den Themen „60 Jahre Grundgesetz“ und „20 Jahre Mauerfall“. Da der SPD-Politiker in der ehemaligen DDR aufgewachsen ist, nahm die Wiedervereinigung breiten Raum ein. Es dürfte für die Schüler eine sehr eindringliche Stunde in Geschichte gewesen sein, denn allesamt waren zu jung, um den Mauerfall miterlebt zu haben.

In beiden Schulen erzählte Thierse von seinem Leben in der DDR und davon, wie er den Mauerfall erlebte. Seine Familiengeschichte illustrierte die Absurdität des DDR-Staates. Denn: Er ist in einer thüringischen Kleinstadt an der Grenze zu Bayern aufgewachsen, die mit dem Ziehen der innerdeutschen Grenze zum Sperrgebiet erklärt wurde. Als er später in Berlin wohnte, benötigte er einen Passierschein, um seine Eltern zu besuchen. Als seine Mutter krank wurde und er in der Eile ohne Schein auftauchte, musste er Strafe zahlen. „So absurd war dieses Land“.

Der 65-Jährige ließ die Ereignisse im letzten halben Jahr vor dem Mauerfall aus seiner Sicht Revue passieren – und die Schüler lauschten gebannt. Die Fluchtbewegungen vieler DDR-Bürger, der Aufbruch, habe ansteckend gewirkt, und er selbst habe gespürt: „Wenn ich jetzt nicht mit auf die Straße gehe, wenn ich jetzt nicht mit kämpfe, dann werde ich mich ein Leben lang schämen.“ So wurde er quasi aus seinem Wissenschaftlerleben in die Politik katapultiert. Seine politische Leidenschaft habe sich seit jeher aus der Erfahrung von Ungerechtigkeit gespeist.

Ob der heutigen Jugend dann nicht der Antrieb, sich zu engagieren aufgrund mangelnder Ungerechtigkeiten in diesem Land einfach abhanden gekommen sei, wollte ein Schüler wissen. Monika Griefahn und Wolfgang Thierse waren zunächst erfreut, dass dieses Gefühl von Gerechtigkeit bei den Jugendlichen vorhanden war. „Aber das das so bleibt, dafür müssen wir auch jeden Tag kämpfen“, sagte Monika Griefahn. Und Wolfgang Thierse überlegte laut, ob es nicht doch Missstände gebe, die womöglich das Leben der nächsten Generation massiv beeinträchtigen würden und die darum verbessert werden müssten. Und auch die Frage, ob er empfehlen könne, Politik als Beruf zu verfolgen, stimmte ihn nachdenklich: „Ich habe um jeden, der mit 20 Jahren Berufspolitiker wird, ein bisschen Angst. Es ist ein öffentliches Leben mit einem großen Druck. Man sollte erst einmal andere Erfahrungen manchen, damit die Politik einen nicht mehr so sehr formen kann“, meinte er – und empfahl ein ehrenamtliches Engagement als guten Einstieg in die Politik.

Entsprechend den übergeordneten Diskussionsthemen gab es Fragen zum Grundgesetz und warum Thierse nicht für eine gesamtdeutsche Verfassung und gegen einen Beitritt der DDR gekämpft habe. „Ich hatte den Wunsch, dass es eine gemeinsame Verfassung geben sollte. Ich wollte auch, dass es keine chaotische Wiedervereinigung wird, sondern eine geordnete, und dass die Ostdeutschen dabei gleichberechtigt sind“, erzählte Thierse. „Aber der Tempodruck 1990 war so groß, das war alles nicht so möglich.“ Nun schleppten die Ostdeutschen nach wie vor ein Benachteiligungsgefühl im Rucksack mit sicher herum. „Aber,“ so Thierse, „wir haben ein gutes demokratisches System. Es lebt vom Einmischen der Bürger.“

Thierse trennte das frühere politische System der DDR klar von den Biografien der Bürger. Wer verlange, dass die Ostdeutschen, die zufällig in der DDR aufgewachsen sind, ihre Biografien aufgäben, der verlange Unmenschliches. Er bleibe mit ostdeutschem Selbstbewusstsein bei seinem Satz, dass es ein richtiges Leben im falschen System gewesen sei.

Um zu erklären, warum die DDR gescheitert ist, machte er ein Ungleichgewicht von Freiheit und Gerechtigkeit aus. Das Ideal des Kommunismus sei eine gerechte Gesellschaft, und Gerechtigkeit an sich auch erstrebenswert. In der DDR sei aber die Freiheit nicht berücksichtigt worden. „Freiheit und Gerechtigkeit gehören zusammen“, sagte der SPD-Politiker. „Sie brauchen einander in einem Gleichgewicht.“ Gerechtigkeit unter Preisgabe der Freiheit, daran sei die DDR gescheitert.